Bild von Brücke von Heidelberg

❬ Selkie

von Frederik Greve

Mairead stand allein am Strand und ließ ihren Blick über den Horizont schweifen. Ihre Zehen gruben sich in den warmen Sand. Gerade weit genug, dass das Wasser der ruhigen Wellen ihre Zehenspitzen nicht berühren konnte. In ihren Armen hielt sie nichts als ein Robbenfell - ihr Fell.

Der würzige Seewind spielte mit ihren Haaren, wirbelte es in Strähnen umher, wie es die Strömungen einst mit ihr gemacht hatten. Vor einer Zeit, die nun viel zu lange vergangen schien, als das Meer noch ihr Zuhause war. Sie wandte ihren Blick vom Wasser ab und sah auf ihr Fell. Es fühlte sich warm und einladend an. Ihr Drang, es umzulegen, war so groß wie ihre Sehnsucht nach der Weite des Meeres. Doch sie wusste, dass sie vielleicht niemals wiederkehren würde, wenn sie der Versuchung nachgab.

Sie spürte erneut die Tränen, die dieser Tage so oft von ihren Wangen glitten. Getrieben von einer Wehmut, die sie im Inneren zerriss. Collin, ihr lieber Collin, hatte bereits bemerkt, dass sie litt. Doch sie konnte ihm nichts sagen. Wie sollte sie? Wenn sie ihm sagen würde, dass ihre Liebe der Grund für ihr Leiden war ... Es würde ihm das Herz brechen.

Langsam senkte sich die Sonne tiefer ins Meer und tauchte den Strand in ein feuriges Orange. Bald würde sie von den Fluten verschlungen werden, nur, um am nächsten Tag wieder aus ihnen zu entsteigen. Wie Mairead die Sonne dafür beneidete.

Es würde nicht mehr lange dauern bis Collin nach Hause kommen würde. Wie würde er wohl reagieren, wenn er sie dort nicht vorfinden würde? Er würde sie bestimmt suchen. Gregor, Ian und all die anderen netten Leute aus dem Ort, die sie ohne große Fragen in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten, würden ihm bestimmt helfen. Doch sie würden keinen Erfolg haben. Wie sollten sie? Mit ihrem Fell würden sie sie nie erkennen können.

Würde er sich Vorwürfe machen? Würde er wieder glücklich werden können? Vor ihrem inneren Auge sah sie Collin verzweifelt die Nächte durchstreifend, nach ihr suchen. Nur, um dann zerbrochen an ihrem kleinen Tisch in ihrer Kate zu trauern. Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken so sehr, dass es zu zerreißen drohte. Nein, niemals konnte sie ihm so ein Leid antun.

Vorsichtig versteckte sie ihr Fell erneut in der kleinen Mulde unter den Steinen an der Düne. Ihre Liebe zu Collin war größer als ihre Sehnsucht nach dem Meer. Doch wie lange würde sie dem Drang noch widerstehen können? Als sie den schmalen Stieg zur Kate erklomm, sah sie noch einmal hinaus aufs Meer. Die Sonne war schon fast verschwunden und in der Ferne konnte sie einige Robben schwimmen sehen.

Vielleicht würde sie ihm heute ihr Geheimnis gestehen. Vielleicht würde dies die Last von ihrem Herzen nehmen. Wahrscheinlich würde es nicht gut ausgehen. Keine dieser Geschichten ging jemals gut aus.

Als sie die Kate erreichte, brannte in ihr bereits Licht. Durch das Fenster konnte sie Collin sehen, der schon bereits damit begonnen hatte, das Abendessen vorzubereiten. Mairead lächelte und für einen Moment verdrängte die Wärme dieses Anblicks jeden Schmerz. Ihre Liebe war größer als die Sehnsucht nach dem Meer und sie nahm sich vor, das Beste aus der Zeit zu machen, die sie noch gemeinsam hatten, bis sie zurückkehren musste.